Wagen für Bürger

Das fahrbare Haus, der Wagen, in dem man essen, trinken und schlafen kann wie in einem Hotel, ja wie zuhause: Es ist die angenehmste Form des Reisens. Das war nicht immer so: Die ersten Wagen waren den Kutschen nachgebildet. Was sollten die Stellmacher, die den Auftrag erhiel­ten, die Wagen für die ersten Eisenbahnen zu bauen, anderes schaffen als das, was sie bisher für die Rei­senden der Post gebaut hatten?

Man reihte also mehrere Postwagenkästen auf einem Eisenbahnfahrgestell aneinander: Daraus entstand bei den ersten Bahnen der Abteilwagen, der übrigens bis heute in England noch vorherrschend ist. Die Tü­ren gingen nach außen auf wie bei allen Postkutschen. Zwar wurden in den meisten europäischen Ländern die ersten Lokomotiven aus England geholt. Aber die Wagenkästen und also auch die Wagenun­tergestelle baute man möglichst im eigenen Land. Diese ersten Wagen hatten normalerweise zwei Ach­sen: des besseren Laufs und auch der leider so häu­figen Achsbrüche wegen fügte man bald eine dritte Achse hinzu.

Ganz anders verlief die Entwicklung in den Vereinig­ten Staaten. Dort baute man den sogenannten Saal­wagen mit großem Innenraum und Einstieg an den beiden Enden. Hier nahm man als Vorbild den Flussdampfer oder das Schiff. Dem großen Saal, der erst auf zwei starren Achsen lief, wurden bald des ruhige­ren Laufes wegen auf dem schlechten Oberbau zweiachsige Drehschemel untergeschoben. Er war damit der Vorläufer des Drehgestellwagens. Als einzige deutsche Bahn verwendete Württemberg von Anfang an den offenen Durchgangswagen; sehr früh übernahm es auch das Drehgestell.

Der Unterschied hat auch soziologische Bedeutung. Während die Abkapselung in deutschen Abteilen, sogenannten Coupes, der differenzierten Schich­tung und der Eigenbrötelei deutscher Bevölkerung entgegenkam, entsprach der offene Saal eher dem amerikanischen Bewusstsein, das prinzipiell keine Standesunterschiede kannte. Nur die Neger wurden abgesondert befördert, soweit sie nicht das Bedie­nungspersonal stellten.

Schon bei den ersten deutschen Bahnen gab es auch die Klasseneinteilung, die zugleich auch eine Tarif ­und Fahrpreiseinteilung war. Die erste Klasse reiste in perfekten Wagen mit be­weglichen Fenstern und Polstersitzen; die zweite Klasse hatte lederne Vorhänge und war weniger weich gepolstert. In der dritten Klasse saß man auf Holzbänken, den blauen Himmel über sich, der oft genug von Rauch, Ruß und Staub verdunkelt war. Wenn es regnete, musste man im Wagen den Schirm aufspannen. Es gab genug Bahnen, die eine vierte Klasse führten: Die Wagen waren offen und zuweilen ohne Bänke. Wer dort stehend fuhr- Stehplatz- ver­ließ buchstäblich gerädert, verstaubt, betäubt den Zug.

Die Taunusbahn führte nach einer Mitteilung der Vossischen Zeitung vom 13. Juli 1840 sogar Wagen fünfter Klasse, die »gänzlich offen sind und für die der Platz bis höchstens auf sechs Groschen bestellt ist. . . « Ruß und die Feuersgefahr durch Funkenflug - auch die explosive Stimmung in der Bevölkerung ­führten dazu, dass ab 1845 für die Personenbeförde­rung nur noch gedeckte und mit Fenstern versehene Wagen gebaut wurden. Die Ausstattung der Wagen war spartanisch. Der Einstieg war unbequem. Das Reglement der öster­reichischen Kaiser-Ferdinand-Nordbahn verbot, dass die Reisenden selbständig auf die Wagen »hinauf­kletterten«. Die Beleuchtung fehlte: nachts fuhren ja keine Züge. In Preußen war seit 1844 die Wagenbe­leuchtung eingeführt worden. An den Einbau einer Belüftung dachte noch niemand. Auch Heizung war nicht vorgesehen. Im Winter nahmen die Reisenden Wärmflaschen mit oder hüllten sich in Decken.

Die sanitären Verhältnisse waren ungenügend. In den ersten Wagen gab es kein Klosett. Der Erste Klasse Reisende pflegte sowieso bei den langen Unterwegshalten seine Mahlzeiten im Bahnhofsre­staurant oder in einer nahe gelegenen Wirtschaft einzunehmen. Dort hatte er alle sanitären Bequem­lichkeiten. Die anderen Reisenden mussten eine Sta­tion abwarten, um den im Packwagen eingebauten Abort aufzusuchen. Dort aber musste man bis zur nächsten Station »sitzen bleiben«, weil ein Übergang vom einen zum anderen Wagen damals jedenfalls noch nicht möglich war. Salon- und Hofwagen hat­ten von Anfang an ein eingebautes Klosett. Das hing damit zusammen, dass der Salonwagen-Reisende zumeist in diesem Salon auch übernachtete. Alle diese Dinge besserten sich im Zuge der raschen technischen Perfektion: Es waren die Salon- und Hofwagen, in denen als erstes der fortgeschrittene Komfort eingeführt wurde. Für diese Wagen war im­mer Geld da. »Fürsten und Standesherren wetteifer­ten im Einbau einer luxuriöseren und komfortable­ren Innenausstattung; was dort erprobt war, fand aber auch bald seinen Weg in die für die Öffentlich­keit bestimmten Wagen. So schaffte der Hofwagen die Vorbilder für den allgemeinen Personenwagen­bau«. (Dost)

Nach dem Siebziger Krieg kam die entscheidende Wendung. Eduard von Heusinger, bekannt durch die nach ihm benannte verbesserte Lokomotivsteue­rung, die sich inzwischen überall durchsetzte, wo man mit Lokomotiven fuhr, machte den entschei­denden Vorstoß: Er schlug den Abteilwagen mit Sei­tengang vor, wie er heute in fast allen europäischen Ländern geläufig ist, den Durchgangswagen. Die Weltausstellung von 1873 in Wien zeigte auch diesen Wagen.

Die Süddeutschen, aber auch die Österreicher, bau­ten diesen Wagen sofort. In Preußen hielt sich der Abteilwagen länger. Dort fuhr der erste Schnellzug mit D-Zug-Wagen von Berlin nach Köln erst 1892. Die ersten Durchgangswagen fuhren aber schon 1870 auf der hessischen Ludwigsbahn. Die Erfindung des Faltenbalgs, der heute durch Gummiwülste ersetzt wird, vollendete die Erscheinungsform des D-Zu­ges.

Die technische Seite der Entwicklung im Personen­wagenbau ist gekennzeichnet durch die Einführung des Drehgestells, der selbsttätigen Luftdruckbremse System Westinghouse, in der Schweiz und Öster­reich Oerlikon, in Deutschland heute Kunze-Knorr und Knorr, und der Kupplung der Wagen mittels einer Verschraubung. Die automatische Kupplung soll, in erster Linie für Güterwagen, grundsätzlich auch bei Personenwagen eingeführt werden. Ein Termin steht noch nicht fest.

Die Bremsen waren ursprünglich auf wenige Wagen verteilte Handbremsen. Die Bremser saßen in der ersten Zeit auf erhöhten Sitzen bei Abteilwagen, bei Saalwagen auf den offe­nen Plattformen bei jedem Wind und Wetter. Um zu halten, stellte zuerst der Lokführer die Dampfzuführung zu den Zylindern ab. Dann gab er mit der Dampfpfeife ein bestimmtes Signal. Auf dieses Zei­chen hin stürzten sich die Bremser auf die Plattform, wo sie die Spindeln ihrer Handbremsen drehten. Es dauerte lange, bis der Zug auf diese Weise zum Stehen kam.

Waren bei den ersten Wagen die Decken so nieder, dass man nur gebückt stehen konnte, so wurde bald auch hier der Gedanke an die Bequemlichkeit der Reisenden Sieger. Aber kaum hatten die Wagen eine vereinbarte Höhe erreicht, kamen ökonomisch ver­anlagte Wagenkonstrukteure auf den Gedanken, un­ter Ausnutzung des Profils auf demselben Fahrge­stell die doppelte Anzahl von Passagieren zu beför­dern. So entstand der Doppelstockwagen, erst auf Berliner Vorortstrecken Ende der Siebziger Jahre - die überhaupt auf eisenbahntechnischem Gebiet äußerst fruchtbar waren -, sodann bei der Lübeck­ Büchener Eisenbahn, wo Doppelstockwagen bis heute noch zwischen Hamburg und Lübeck auf der inzwischen der Bundesbahn gehörenden Strecke verkehren.

Ein Vorläufer des Autoreisezuges und des Hucke­packverkehrs war der sogenannte Equipage-Wagen. Er stammt aus der Kutschenzeit, in der nur erst Teil­stücke und Streckenfragmente der ersten Bahnen bestanden. Auf Flachwagen verlud man teils von Hand, teils mittels Portalkränen wie in Frankreich um 1840 die Kutschen. So konnte man von einem End­bahnhof zum anderen fahren, auch gewissermaßen einen Haus-Haus-Verkehr mit der eigenen Kutsche inszenieren. Während der Fahrt saßen die Reisenden in der Kutsche, der Kutscher auf dem Bock. Er brauchte bei der Rheinischen Eisenbahn zum Bei­spiel nur eine Karte dritter Klasse, die Herrschaft aber hatte außer der Kutschenfracht noch den Fahrpreis zweiter Klasse zu entrichten.

Die neuesten Bequemlichkeiten der Hof- und Salon­wagen wurden als erstes von der Post für ihre »Post­ambulanzwagen« übernommen. Sie, ebenso wie die Packwagen, die das Gepäck der Passagiere und das eilige Frachtgut, das Expressstückgut, mitnahmen, wurden im Äußeren und in der Ausstattung - Beleuchtung, Heizung, Bremsen - auf die in den Zügen mitlaufenden Personenwagengarnituren ab­gestimmt.

Vor allem der Postwagen, in dem ja die Briefe und Pakete sortiert werden und in dem also konzentriert gearbeitet wird, musste angemessene Arbeitsmög­lichkeiten bieten. Doch saßen in dem Postwagen damals nicht nur Postbeamte. Vor Erbauung der Eisenbahnen, schreibt Bismarck in seinen »Gedan­ken und Erinnerungen«, hat es Zeiten gegeben, in denen nach Überschreitung der Grenze ein österrei­chischer Beamter zu dem preußischen Kurier in den Wagen stieg, unter Assistenz des letzteren die Depe­schen mit gewerbsmäßigem Geschicke geöffnet, ge­schlossen und exzerpiert wurden, bevor sie an die Gesandtschaft in Wien gelangten.

»Nachdem Eisenbahnen verkehrten«, galt es als eine vorsichtige Form amtlicher Mitteilung von Kabinett zu Kabinett nach Wien oder Petersburg, wenn dem dortigen preußischen Gesandten per Bahn ein ein­facher Postbrief geschrieben wurde. (»Gedanken und Erinnerungen«) Der Inhalt wurde von beiden Seiten, also von Seiten Berlins und Wiens oder Berlins und Petersburgs als dem Gegner »zugeflüstert« angesehen. »Man be­diente sich dieser Form der Zuträgerei durch den Postspitzeldienst der Gegenseite gelegentlich dann, wenn die Wirkung einer unangenehmen Mitteilung im Interesse der Tonart des formalen Verkehrs abge­schwächt werden sollte ... « Ein Aspekt aus der Zeit der Geheimdiplomatie: Bahn und Post als Mittel fein abgestufter diplomatischer Kommunikation!

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  Auszug aus Erlebnis Eisenbahn

Diese Seite wurde erstellt am: 28.11.2004 23.18.50