Der Patentee-Typ

Die "Planets" liefen bei größerer Geschwindigkeit sehr unruhig, und ihre Dampfleistung war begrenzt. Die Stephensons verbesserten dies durch Hinzufügen einer Schleppachse hinter dem Stehkessel in den frühen dreißiger Jahren, der dann beträchtlich vergrößert werden konnte. Nach der ersten Maschine dieses Typs wurde sie als "Patentee-Klasse bekannt. Die zusätzliche Achse konnte eine Laufachse bei einer Personenzuglok oder eine Kuppelachse bei Güterzugmaschinen sein. Wahlweise ließ man auch die führende Achse oder alle drei kuppeln. "Patentees" der einen oder anderen Art wurden vielfach für den europäischen Verkehr gebaut, als die Länder auf dem Kontinent nacheinander das neue Transportmittel einführten. Die ersten Lokomotiven für öffentliche Bahnen in Belgien (La Fleche und Stephenson, Staatsbahn Brüssel-Mecheln, 1835), in Deutschland (Der Adler, Eisenbahn Nürnberg Fürth, 1835), in Russland (Pawlowsk-Zarskoje Selo, 1837), in Holland (De Arend, Holländische Eisenbahn, 1839) und in Italien (Bayardo, Eisenbahn Neapel-Portici, 1839) waren alle "Patentees". In ihrer Heimat England gab es die Type in Überzahl, und direkte Abkömmlinge, noch mit Doppelrahmen aus Holz und Eisen, konnte man noch in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts treffen.

Ein besonders schönes Beispiel ist die North Star, die 1837 von Robert Stephenson für die Great Western Railway in England gebaut wurde. Dieser großartige Entwurf in England stammt von Isambard Kingdom Brunel, dem Sohn eines französischen Emigranten und einer Engländerin, der in großem Rahmen Eisenbahnen plante. Damals erlebte der Bahnbau seine erste Blüte, und Bahnlinien wurden in vielen Teilen der westlichen Welt gefördert und gebaut. Die häufigste Spurweite waren 4 Fuß, 81/2 Zoll oder 1,435 in, welche nicht nur der jener alten Kohlengrubenstrecken in Nordostengland entsprachen, sondern sogar der Räderbreite auf den römischen Straßen zu Zeiten der Cäsaren nahe kam. Brunel hielt dieses Maß jedoch für unzulänglich, besonders bei einem solch fortschrittlichen Verkehrsmittel wie der Eisenbahn, und setzte seine Spurweite auf sieben englische Fuß (genauer 7 Fuß '/4Zoll oder 2,140 in) fest. Es ist eine der Tragödien der Eisenbahngeschichte, daß man dieses Maß nicht zur Norm erhob. Wunderbar geräumige Züge wären möglich geworden, obwohl es sicherlich im Gebirge Schwierigkeiten gegeben hätte. Sie blieb ohnehin auf die westlichen Teile Großbritanniens beschränkt und verschwand 1892 endgültig. Stephensons alte Spur hatte in Europa von der russischen Grenze bis zu den Pyrenäen und in ganz Nordamerika gesiegt. Wir werden breitere Spuren treffen, wenn auch nicht in Brunels großem Maßstab, und viel schmalere. Bedeutende Breitspurländer sind heute die UdSSR, Indien, die südamerikanischen Republiken, Spanien und Portugal.

Abgesehen von der breiten Spur war North Star an sich schon eine große Ausgabe der "Patentee" (wie Der Adler in Deutschland eine kleine war). Ursprünglich für die 5 Fuß 6 Zollspur der New Orleans Railway in den USA gebaut, war ein Vertragsbruch Ursache, daß sie auf 7 Fuß Spurweite umgebaut wurde und an die Great Western kam. Sie besaß Treibräder von 2134 mm Durchmesser, die Innenzylinder wiesen einen Durchmesser und auch Hub von 406 mm auf, die Gesamtheizfläche betrug 66,05 M2. Obwohl die Maschinen damals schnell veralteten, wurde North Star noch 1854 mit neuen Zylindern und einem größeren Kessel ausgerüstet und stand über 33 Jahre im Dienst, ein Wunder in jener Zeit. Die Lok hatte am 4. Juni 1838 den ersten Great Western-Zug aus London geführt und wurde von der Great Western-Gesellschaft viele Jahre erhalten. Eine barbarische Mischung zwischen Gleichgültigkeit und Vandalismus brachte sie 1906 auf den Schrotthaufen. Seitdem sind viele vergebliche Rechtfertigungen vorgebracht worden, und eine teilweise hölzerne Kopie wurde gebaut.

Da endete die Geschichte des Lion weitaus glücklicher. Das war eine B 1-gekuppelte Patentee mit einer quadratischen gotisch gewölbten Feuerbüchsumkleidung. Sie wurde als erste Maschine von Kitson in Leeds (Todd, Kitson and Laird) während des Winters 1837-38 gebaut und von der Liverpool und Manchester Railway für den Güterverkehr erworben. Die L. und M. R. vereinigte sich mit der Grand junction Railway, die sie mit Birmingham verband, und diese bildeten dann wieder unter Vereinigung mit der London und Birmingham Railway, der ersten großen Bahn aus der Hauptstadt heraus, Teile der mächtigen London und North Western Railway, die später den Lion erbte. Die L. N. W. R. verkaufte die Lok an die Docks von Liverpool, wo sie jahrelang eine Dockpumpe antrieb. Davon wurde sie in den zwanziger Jahren erlöst und 1929 von Robert Stephenson und Company unter der Leitung von A. C. W. Löwe völlig restauriert. Anlässlich der Hundertjahrfeiern der Liverpool and Manchester Railway 1930 dampfte sie wieder über die Strecke und trat seitdem vollkommen intakt in mehreren Filmen auf.

Aus der Achsfolge 1 A 1 der "Patentee" entstand also in Europa für Güterzüge die B 1 oder 1 B, da jene eine größere Reibungszugkraft erforderten. Wir wiesen auch auf das frühe Auftreten ihrer Vorgängerin, der Planet-Type, in Amerika hin. Hier wurden recht interessante und in Europa unbekannte Veränderungen an der beiden Bauarten zugrunde liegenden Konzeption vorgenommen. Während in Europa schmiedeeiserne Schienen, zuerst auf Steinblöcken und dann auf Holzschwellen verlegt, üblich waren, hielt Amerika lange Zeit auf bestimmten Strecken hartnäckig an der mit Bandeisen beschlagenen hölzernen Bahn fest. Außerdem wurden diese frühen amerikanischen Bahnen oft sehr flüchtig auf einer Bettung verlegt, die kaum diesen Namen verdiente. In einem sich entwickelnden Land ist es eben wichtiger, den Eisenbahnbau so schnell wie möglich voranzutreiben, damit neue Ansiedlungen und Plantagen gedeihen können. jene Unregelmäßigkeit verlangte eine sehr anpassungsfähige Lokomotivbauart, sollte der tägliche Zug nicht einen großen Teil seiner Fahrzeit außerhalb der Schienen und womöglich achsentief in der Mutter Erde verbringen.

Als Mittel, dies zu vermeiden, bot sich die Verwendung eines beweglichen, führenden Drehgestells mit zwei Achsen an, weniger, um den Kurvenlauf zu verbessern, als vielmehr, um vier Rädern eine Zweipunktaufhängung zu geben. Seine Herkunft ist umstritten. Die Erfindung wurde für die Stephensons beansprucht (das englische Wort "bogie" für Drehgestell ist ein Ausdruck aus dem Nordosten). Mit Sicherheit ist die Vorrichtung zuerst in den Vereinigten Staaten nachweisbar, gleich, wo sie erfunden wurde. Gerechterweise sei erwähnt, daß Robert Stephenson bereits 1828 mit einer Abordnung amerikanischer Ingenieure über diese noch nicht gebaute Einrichtung sprach.

1832 hatte John B. Jervis eine Maschine für die Mohawk und Hudson Railroad bei West Point Foundry nach seinen Entwürfen bauen lassen, die er Experiment nannte, die aber in die Geschichte als Brother Jonathan eingegangen ist (zu jener Zeit wurden die recht streitsüchtigen angelsächsischen Vettern entweder als John Bull oder Brother Jonathan bezeichnet; Uncle Sam und Wilhelm Busch's Mister Pief waren noch nicht aufgetreten).

Im Grunde war sie eine "Planet", besaß aber das führende Drehgestell, das an die Stelle der alten starren Achse hinter der Rauchkammer getreten war, während die normalerweise folgende Treibachse hinter den Stehkessel gerückt war und damit Patente vorwegnahm, wie sie später in England T. R. Crampton erteilt wurden, von dem wir später mehr hören werden. Obwohl eine sehr kleine Lok, galt sie - vermutlich bei geringer Last - als Renner. Wenige der frühen Geschwindigkeitsrekorde können als authentisch gelten, und die Behauptung, Brother Jonathan (oder Experiment) sei eine Meile (1,6 km) pro Minute gelaufen, gehört ins Reich der Fabel. Freilich könnte es so gewesen sein. England lieferte eine ähnliche Lok im folgenden Jahr 1833 an die Camden und Woodbury Railroad in den Vereinigten Staaten. Damals bauten auch J. und C. Carmichael eine wunderliche Maschine der Achsfolge A 2 mit seitlichem Hebeltriebwerk für die Dundee und Newtyle Railway.

Noch interessanter ist die Weiterentwicklung von Stephensons Ursprungstype durch Henry Campbell 1836. Von ihm stammte eine Lokomotive der Philadelphia, Germantown und Norristown Railroad in Pennsylvanien in der Bauart der "Planet", aber vorn mit dem Stephenson-Jervis-Drehgestell und einer zusätzlichen Achse hinter dem Stehkessel (auch von Jervis), die mit der Treibachse durch außenliegende Kurbeln und Stangen gekuppelt war. Die Maschine hatte nach einigen zuverlässigen Berichten nur wenig Erfolg und geriet ein bißchen in Vergessenheit. Sie war kein Prototyp, aber bezüglich der Achsanordnung die erste der später so berühmten 2 BType, die auch in Europa so markante Abkömmlinge aufwies, wie die französische "Outrance"-Klasse der siebziger Jahre oder sogar die modernen englischen "Cities" des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts. Natürlich bestand bei diesen der Rahmen nicht mehr aus Holz.

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